KULTUR - ORIENTIERUNG

THESEN ZUR KULTURELLEN ENTWICKLUNG IM SAARLAND

Vorgestellt von der Saarländischen Gesellschaft für Kulturpolitik e.V.
am 12.09.2005 im Saarbrücker Rathausfestsaal


Mitten in dem fruchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen, als im Moralischen entbindet.

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795

 

(a) Kultur

1. Schillers Definition des Spiels, aus dem humanistischen Bildungsideal des
18. Jahrhunderts stammend, hat seine Überzeugungskraft nicht verloren. Im Spiel drückt sich der Wunsch des arbeitenden Menschen aus, sich selbst und die Welt zu erkunden, ihren Widersprüchen nachzuspüren, Zweifel und Hoffnung einzubeziehen. Im Spiel und durch das Spiel entsteht Kultur als die Gesamtheit aller Leitvorstellungen für das Leben. Die in diesem Zusammenhang geschaffenen Werke bedingen, wie sich Jean Paul ausdrückt, die Erziehung als das „gleichsam ineinander wechselseitig sich impfende Wachsen des äußeren und inneren Menschen“.

2. Jede soziale Gruppe spielt und generiert damit und dadurch Kultur. Im Zuge gesellschaftlicher Arbeitsteilung haben sich jedoch Spezialisten der Kulturproduktion gebildet, die aufgrund der Resonanz, die sie erzielen, von bestimmten Bezugsgruppen alimentiert werden. Sie entwickeln die Hochkultur, die anderen die Alltags-, Volks- oder Soziokultur. Doch die Grenze zwischen dem vermeintlich gehobenen Unterhaltungsangebot und der populären Breitenkultur ist fließend: Was heute noch Alltagskultur ist, kann morgen schon zur Hochkultur gezählt werden.

3. Hochkultur hat sich ausdifferenziert. Ihre größten Handlungsfelder sind die Künste und die Wissenschaften mit ihren jeweiligen Teilbereichen. Welche Leitvorstellungen und Artefakte zum aktuellen Kanon der Hochkultur gezählt werden, ergibt sich aus einem gesellschaftlichen Diskurs, der maßgeblich von den Intellektuellen angestoßen und geführt wird. Solche Bewertungen verändern sich kontinuierlich.

 

(b) Kultur und Gesellschaft

1. Menschliches Zusammenleben ist konstitutives Thema von Kunst und Wissenschaft.  Dabei entstehen Visionen von individuellen und kollektiven Identitäten, Idealen und gesellschaftlichen Utopien. All dies wirkt sinnstiftend und orientierend in die Gesellschaft hinein und tangiert moralische Normen.

Globalisierung, Individualisierung und Medialisierung erzeugen die Krise der Gegenwartsgesellschaft. Das Lebensgrundgefühl vieler Menschen, ihre Hintergrundemotion, ist Angst. Ein neuer Sozialcharakter entsteht, der narzißtische Selbstdarsteller. Die „Ich-Wir-Balance“ gerät aus den Fugen, das Denken wird anfällig für hysterische Epidemien und die Menschen werden verführbar durch charismatische Medienstars aller Art.

3. Kunst und Wissenschaft dürfen nicht der totalen Ökonomisierung anheim fallen. Voraussetzung dafür ist, den visionären Aspekt künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit anzuerkennen und als eigenständigen Förderbereich zu gestalten. Nicht privatwirtschaftliches Kosten-Nutzen-Denken steht hier im Vordergrund, sondern die Sicherung eines Freiraums für kreative Gestaltung.  Kunst und Wissenschaft müssen frei sein für die Formulierung kultureller Perspektiven für ein friedliches, gerechtes und tolerantes menschliches Zusammenleben im dritten Jahrtausend. Ihre Finanzierung ist eine zentrale Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen, privates Engagement kann ergänzend hinzutreten.

Die Globalisierung darf nicht dazu führen, die eigene nationale Kultur und ihr kulturelles Erbe zu vernachlässigen. Gelebte und reflektierte Traditionen stärken das Selbstbewusstsein einer Nation. Zugleich befähigen sie sie, anderen Kulturen, insbesondere den Migranten, mit der besonderen Sensibilität zu begegnen, die sich durch gegenseitigen Respekt, Verständnis und Freiheitsdenken ausdrückt.

Dazu gehört auch der verantwortungsbewusste Umgang mit der Sprache.

Jede Sprache hat ihren eigenen Charakter und ihre unverwechselbare Schönheit, die es zu erhalten gilt.

 

(c) Kultur im Saarland

8. Das Saarland als politische Einheit ist durch die aktuellen sozialen und ökonomischen Tiefenströmungen besonders gefährdet. Kultur im Saarland muss also stärker als anderswo Identität stiften und konkrete Utopien entwickeln. Dabei kann es auf bisher kaum genutzte historische und kulturelle Fundamente zurückgreifen, die auch über die Region hinausweisen und dem von politischer Seite immer wieder formulierten Bild der Groß-Region „Saar-Lor-Lux“ inhaltliche Substanz vermitteln. Es ist eine tief in der europäischen Geschichte verwurzelte Grenzregion, deren leidvolle nationalstaatliche Geschichte jetzt in eine europäisch geprägte Zukunft übergeht.

9. Die Kernelemente saarländischer Kulturpolitik müssen sich also um folgende Themen herum entwickeln:

- Entwicklung einer selbstbewussten kulturellen Identität auf der Grundlage keltischer, römischer, lothringischer, preußischer und saarländischer Geschichte und des jüdisch-christlichen Erbes, Sondierung von Problemen des Übergangs von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft unter besonderer Berücksichtigung der saarländischen Mentalität,

- Entwicklung politischer und sozialer Utopien in einem Kernbereich der deutsch-französischen Zusammenarbeit, der Saar-Lor-Lux-Region.

10. In der gegenwärtigen Situation in Deutschland besteht die Gefahr, dass die politischen Eliten den Stellenwert der Kultur für die Gestaltung der  Zukunft des Landes aus  ökonomischen Gründen hintan stellen. Im Saarland kommt erschwerend hinzu, dass sich hier bisher kein bedeutendes, selbstbewusstes und tief in der Kultur und Geschichte des Landes verwurzeltes Bildungsbürgertum gebildet hat, das die kulturellen Defizite der Bevölkerung und der politischen Eliten korrigieren könnte. Stattdessen entwickelte sich in der Vergangenheit eine kleinbürgerlich-proletarische „Arbeitertradition“, die in der gegenwärtigen Krise ebensowenig zukunftstaugliche Orientierungen vermittelt wie die gegenwärtig dominierende Erlebnis- und Eventorientierung. Ohne die ein oder andere Kunst- und Kulturrichtung schmälern zu wollen, sind hier die kulturpolitischen Eliten gefragt, neue Signale zu setzen, denn es fehlt an zukunftstauglichen Orientierungen, die einen Weg aus der gesellschaftlichen Krise weisen können.

 (d) Kulturpolitik im Saarland

11. Die Anstöße für ein neues Kulturverständnis müssen von der Bürgergesellschaft und ihren Eliten ausgehen. Die Bürgergesellschaft steht in der Pflicht, eine Verbesserung des geistigen Klimas mitzubefördern. Dabei geht es um das Schaffen von Transparenz, nicht um elitäre Abgehobenheit. Die Saarländische Gesellschaft für Kulturpolitik moderiert diesen Prozess und sucht den Dialog mit den unterschiedlichen Eliten des Landes.

12. Die kulturelle Bildung als Teil einer umfassenden Persönlichkeitsbildung muss maßgeblich gefördert werden. Sie vermittelt den Zugang zu Kunst und Kultur, zu Kreativität und eigenschöpferischer Selbstverwirklichung, ihre Wertschöpfung im Sinne einer positiven frühkindlichen Persönlichkeitsentwicklung ist wissenschaftlich nachgewiesen. Das setzt eine Hochschul-Ausbildung auch für den Vorschulbereich voraus. Des Weiteren sind auch die weiterführenden Schulen für Angebote der kulturellen Bildung von Künstler/innen aus allen Bereichen zu öffnen und Museen, Theater, Kino, etc. als schulische Lernorte zu entdecken.

13. Ungeachtet der notwendigen Pflege der kulturellen Vielfalt plädieren wir für ein kulturpolitisches Leuchtturm-Konzept: „Leuchttürme“ geben Orientierung. Die desolate Finanzlage im Lande nötigt zur Schwerpunktbildung:

Saarländisches Staatstheater


- Erhaltung herausragender Spielstätten für die darstellenden Künste auf dem hohen Niveau der letzten Jahre

- Ergänzung des Spielplans durch die verstärkte Aufnahme von französischen Stücken

- Fortsetzung der deutsch-französischen Kooperation beim deutsch-französischen Festival „Perspectives Nouvelles“ mit dem Ziel der Integration ins Staatstheater. In diesem Rahmen empfiehlt sich eine finanzielle Beteiligung der Landeshauptstadt Saarbrücken am Saarländischen Staatstheater.

Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Museen und Galerien


-  Ausbau der ständigen Sammlung durch Erwerb von Kunstwerken ausgewählter Kunstrichtungen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts

- Ausbau der klassischen Sammlung auch durch Einwerbung von „passenden Privatsammlungen“, vor allem für den deutschen und französischen Impressionismus sowie den Expressionismus

- Erhaltung der Stadtgalerie am jetzigen Ort als Werkstatt bedeutender Strömungen der aktuellen Kunst

- Konsequente Umsetzung der Integration von Alter Sammlung, Museum für Vor- und Frühgeschichte und dem Historischen Museum zu einem lebendigen Schauplatz der Landesgeschichte von den Anfängen bis in die jüngste Gegenwart

- Weitere Förderung des Saarländischen Künstlerhauses als Ausstellungsstätte und Veranstaltungsort in freier Trägerschaft

Festival Max Ophüls Preis

Das Nachwuchsfestival des deutschsprachigen Films hat sich auf der überregionalen Bühne bestens etabliert und gewinnt stetig an Strahlkraft weit über die Region hinaus. In seinem Bemühen, auch die neuen Entwicklungen im Filmbereich über den Spielfilm und sein 35 mm-Format hinaus zu spiegeln, ist das Festival zu unterstützen, dessen medienpädagogische Aktivitäten verbunden mit der Aktivierung eines jungen Publikums zukunftsweisend sind.

Saarländischer Rundfunk

- Erhalt und Intensivierung der aktuellen und Hintergrund-Berichterstattung  zu den kulturellen Themen und kulturpolitischen Entwicklungen im Saarand und in der Großregion Saar-Lor-Lux, insbesondere im Rahmen von   SR 2 KulturRadio, sowie in je wellenadäquater Weise auch in anderen Hörfunkprogrammen und Fernsehsendungen des Saarländischen Rundfunks

- Weiterhin stabile deutsch-französische bzw. europäische Profilierung des SR auch in der ARD durch Akzentuierung  grenzüberschreitender Programminhalte und Kooperationen.  

Hochschulen

- Stärkung und Akzentuierung der Kultur- und Geisteswissenschaften einschließlich einer leistungsfähigen Bibliotheks- und Medienausstattung

- Verankerung der Universität in der LHS Saarbrücken durch Verlagerung von universitären Einrichtungen in die Stadtmitte (wie z.B. im Bereich der Geisteswissenschaften). In Frage käme dafür das demnächst frei werdende Gebäude des derzeitigen Finanzministeriums.

- Erhaltung und Förderung der Hochschule für Musik Saar und der Hochschule der Bildenden Künste Saar mit ihren Kernaufgaben der künstlerischen Ausbildung, aber auch für Veranstaltungen und Ausstellungen, die mit ihren wichtigen Akzenten und Impulsen unser Kulturleben an der Saar prägen.

- Ausbau des Instituts für aktuelle Kunst zur Pflege und Dokumentation der Künste im öffentlichen Raum und der künstlerischen Nachlässe und der Vorbereitung der Trägerschaft auf Land, Landkreise und Kommunen.

- Verstärkter Ausbau der interdisziplinären Vernetzung der Hochschulen und Intensivierung der Zusammenarbeit der Hochschulen mit anderen kulturellen Einrichtungen im Lande

Weltkulturerbe Alte Völklinger Hütte

- Ausbau zu einem grenzübergreifenden kulturellen Zentrum unter Einbeziehung des Industriekulturbereichs Saarkohle und des Saarflusses mit dem Ziel, die Industriearbeitsgeschichte des Saarlandes in ansprechender Form und mit hohem Erlebniswert zu präsentieren.

Die kulturelle Nutzung der Völklinger Hütte als Veranstaltungsort für Theateraufführungen, Konzerte, avantgardistische oder spartenübergreifende „spektakuläre“ Projekte muss dem „genius loci“ Rechnung tragen. In diesem Rahmen empfiehlt sich eine enge Kooperation mit dem Saarländischen Staatstheater und den Hochschulen des Saarlandes.

Stärkung der Musikszene Saar durch

- Abstimmung der Programme von Staatstheater, Saarländischem Rundfunk und der Hochschule für Musik Saar

- Abstimmung und terminliche Koordinierung der unterschiedlichen Musikfestivals und Events wie Musikfestspiele Saar, Musik im 21. Jahrhundert ,  Musik und Theater Saar, St. Ingberter und St. Wendeler Jazz-Tage über  die Saarbrücker und die Homburger Kammermusiktage, Tage für Alte Musik im Saarland, „Electricity“ und Netzwerk Musik Saar

- Schaffung eines internationalen Ansprüchen genügenden Konzertraumes

- Pflege und Erhaltung der Kirchenmusik

- Förderung der Breitenkultur, insbesondere der Kulturvereine, der Musikschulen sowie der Landesakademie für musisch-kulturelle Bildung Ottweiler als  Instrument der qualifizierten Aus-, Fort- und Weiterbildung.

Förderung der Freien Szene

- Literatur:
Eine lebendige Literaturszene verlangt ein funktionierendes öffentliches Bibliothekswesen. Die Universität des Saarlandes, der Saarländische Rundfunk und das Saarländische Künstlerhaus sollen auch künftig der Literaturpflege dienen. Die Stiftung von Literaturpreisen ist wünschenswert.

- Profilierung der Mittelstädte St. Ingbert, Homburg, Neunkirchen, Merzig, Saarlouis und St. Wendel auf der Basis jeweils regionaler Eigenheiten in allen Bereichen der Kultur insbesondere durch

- Fortführung der engagierten Museums- und Ausstellungsarbeit auch durch Pflege der zeitgenössischen Künste der Region und  Übernahme von Patenschaften für wichtige Projekte wie die Skulpturenstraßen in St. Wendel und Merzig

- Öffnung  temporär genutzter „Spielstätten“ für künstlerische Experimente der bildenden Künste und der Musik

- Bereitstellung von Ateliers und Proberäumen für bildende Künstler und Musiker, insbesondere Absolventen der künstlerischen Hochschulen

- Bildung eines Netzwerks der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung im
technischen und organisatorischen Bereich

- Abstimmung der  jährlichen Kulturprogramme mit dem Ziel
optimierender Profilbildung.

 
Es geht um Qualität. „Provinz ist da, wo man sie zulässt“ (Lothar Romain)